Short Stories


FESTIVAL-ZOMBIES

 

(zum ersten Mal live gelesen zur Leipziger Buchmesse 2018, anlässlich des Zombie-Abends "Lesende Bierleichen" bei Getränke-Feinkost in Leipzig)

 

Der Nebel lichtet sich. Der in seinem Kopf, denn draußen brennt längst die Sonne vom sattblauen Junihimmel. Der leichte Frühdunst, der fünf Stunden zuvor über die Hügel und Flächen der ehemaligen Kiesgrube gekrochen war, hatte sich rasch verflüchtigt. Die Landschaft ist knochentrocken, staubig, wie vom Atemhauch eines Feuers versengt. Er sitzt schwitzend im Schneidersitz auf dem warmen Boden, im Zelt hinter ihm ist es stickig und nach dem Wodka von gestern stinkt es auch. Er stinkt, wie er mit einem leichten Zittern der Hände feststellt, als er tief einatmet und das zerknitterte Motörhead-T-Shirt nochmal überzieht. Was für ein Abend! Spontane Verbrüderung mit ein paar Typen aus Bayern am Metstand, dann Weiterziehen auf der Suche nach Ärger oder Mädchen, bis er einem Mädchen begegnet ist, das nach Escada und Ärger roch. Sie hatte diesen Rockabilly-Look, den er ziemlich sexy fand, und sie konnte saufen. Er bestellte ihr einen Wodka-Bull, den sie ablehnte, weil sie das süße Zeug nicht mochte, also trank er ihn selbst, genau wie seinen eigenen, und spendierte ihr stattdessen was sie haben wollte. Sie trank ihren Wodka mit Soda. Da musste er natürlich mitziehen, damit er nicht wie eine Pussy rüberkam. 

 

 

Am Ende hatte er aufgehört mitzuzählen und sie immer noch nicht betrunken gewirkt. Schickes Ding, aber vielleicht doch eine Nummer zu groß für ihn? Morgens mit Kater sieht die Welt immer so vernünftig aus. Er kratzt sich am Kinn und hört eine Durchsage vom Hauptgelände. Die Worte kann er nicht verstehen, denn sein Zeltplatz ist weit entfernt und von der Richtung her seitlich hinter der Bühne, hierher trägt der Schall nicht so gut. Ist aber auch egal, die erste Band, die er sehen will, spielt erst um zwei. Jetzt ist es kurz nach elf. Ein kühles Bier zum Frühstück wäre gut. Auf die Dose Ravioli aus seinem Rucksack hat er keinen Appetit.

 

 

*

 

 

Auf dem Supermarktparkplatz in Delitzsch herrscht das totale Chaos, während sich drinnen die Belegschaft und einige Kunden verschanzt haben. Die Meute schiebt und drängelt, rüttelt und hämmert auf die Scheiben ein. Das Grauen ist über Nacht gekommen und am späten Vormittag hat es bereits die Mehrheit der Leute verwandelt. Manche hat es noch in ihren Betten erwischt, andere auf dem Weg zum Einkaufen oder beim Morgenspaziergang mit dem Hund. Sie sind verändert, haben alle Menschlichkeit verloren, fallen übereinander her, fressen ihre Hunde, die Haut ganz grau und stumpf, der Blick leer und seelenlos. Und sie riechen die Frische, das Blut derjenigen, die immer noch menschlich sind und sich hier im Markt zusammendrängen. Panisch, einige starr vor Angst, verzweifelt oder schicksalsergeben, und einige wenige auch schlicht nachdenklich. Pragmatisch, auf der Suche nach Antworten, einer Erklärung, einer Lösung für das Problem. Sie hocken zusammen zwischen Bierkisten und dem Getränkeautomaten, haben ein paar Flaschen geöffnet. Es sind Nerds, Computerspieler, Fans von The Walking Dead. Sie kennen sich aus, wissen längst, womit sie es hier zu tun haben, während das ruhelose Rentnerpaar in der Gemüseabteilung noch völlig verwirrt mit dem Kassierer diskutiert, der auch nur hoffen kann, dass die elektrisch verriegelten Eingangstüren der hungrigen Horde da draußen standhalten.

 

 

„Also, Internet geht immer noch“, verkündet der mit den zu langen Haaren. Schlimme Frisur, aber immerhin lebt er noch, denkt sich die junge Frau mit dem rabenschwarz gefärbten Pferdeschwanz und dem akkuraten Pony. Sie trägt eine Jeans, die an den Knöcheln breit umgeschlagen ist, dazu eine Bluse in rot-weißem Vichy-Karo und rote Ballerinas. Das Tuch in ihrem Haar ist ebenso rot-weiß kariert wie die Ohrstecker. Die Farbe ihres Lippenstifts ist perfekt darauf abgestimmt, der Lidstrich ein echter Schwalbenschwanz. Aber davon haben die Jungs, mit denen sie hier zusammensitzt, keine Ahnung. Sie denkt ganz kurz an den Kerl vom Vorabend, den sie locker unter den Tisch getrunken hat. Ein süßes Lächeln hatte der, aber auch einen Bauchansatz und bestenfalls mittelmäßigen Musikgeschmack. Ob er noch lebt? Ob diese grauen, grausigen Gestalten das Festivalgelände bereits überrannt haben? Sie hat kaum geschlafen, die Helligkeit hat sie schon früh wieder aus dem Zelt getrieben. Und ihr Lust gemacht auf frisches Obst. Außerdem hat sie außerplanmäßig ihre Tage bekommen, also hat sie sich ins Auto gesetzt und ist nochmal rüber in den Ort, Äpfel, Erdbeeren und Tampons kaufen. Und dann sind die Zombies gekommen.    

 

 

Bescheuerte Zombies, die können einem aber auch alles versauen. Sie hatte sich so lange auf das Wochenende gefreut, besonders auf die Bands heute Abend. Rezurex, Kris & Lou mit ihrer Cramps-Nummer, und dann als Highlight Volbeat. Als ihr einfällt, dass morgen der Hauptact Rob Zombie gewesen wäre, unterdrückt sie das Auflachen. Die Typen hier sollen sie ja nicht für hysterisch halten.

 

 

„Spiegel, Focus, Bild … die sagen alle das Gleiche. Vom Ausland ist bisher nicht dir Rede, aber aus allen Ecken Deutschlands kommen dieselben Meldungen. Die Zombies rotten sich zu immer größeren Gruppen zusammen, greifen jeden an, der noch menschlich ist, fressen alles und jeden, und die Polizei ist machtlos. Häufig sogar unter den ersten, die es erwischt.“

 

 

Der Langhaarige hat zusammengefasst, was er auf verschiedenen Nachrichtenseiten überflogen hat. Der Typ in Schwarz lacht zynisch auf. „Klar, oder? Dein Freund und Helfer. Was ist mit anderen, die sich dagegenstellen? Bundeswehr, GSG 9 oder sowas?“

 

 

Während der Langhaarige noch scrollt, meldet sich ein ganz junger Kerl mit deutlich osteuropäischem Akzent zu Wort: „Polen macht bereits die Grenzen dicht und fährt Panzer auf. Und in Bayern haben THW und Feuerwehr eine Notfallarmee gebildet und versuchen, die Dinger mit schwerem Gerät plattzumachen.“

 

 

Die anderen nicken anerkennend, aber die Vichykaro-Braut schüttelt ungläubig den Kopf. Die Eingangstüren vibrieren unter dem Ansturm der Horde. Ein beängstigendes Geräusch. Sie wäre lieber auf dem Festival, unter Gleichgesinnten, wenn der Tod kommt. Wenn diese Monster kommen oder sie sich selbst in eins verwandelt. Das ist doch das Merkwürdigste, dass es nicht jeden trifft. Hier drin hat sich noch keiner verwandelt, und sie ist jetzt schon seit fast zwei Stunden hier. Die Leute werden durchdrehen und sich dann vielleicht auch gegenseitig die Köpfe einschlagen, das ist nur eine Frage der Zeit, da macht sie sich keine Illusionen, aber dann tun sie es als Menschen. Die draußen sind alle grau. Oder tot. Hier drinnen sind alle rosig und lebendig. Warum?

 

 

Nach dem, was der Langhaarige an seinem Handy rausgefunden hat, ist das überall so. Es trifft Leute in Gebäuden oder unter freiem Himmel, aber wahllos und nicht flächendeckend. Überall gibt es kleine und größere Gruppen, mit denen gar nichts passiert. Wenn sie das Glück haben, sich irgendwo verbarrikadieren zu können. Denn wenn die Grauen sie erwischen, ganz gleich ob Fremde, Nachbarn oder die eigene Ehefrau, hauen sie ihnen Klauen und Zähne ins Fleisch, schlagen, hacken und beißen zu, mordlustig und gnadenlos. Kann es ein Giftgas sein, eine Chemikalie, die man einatmet? Mit der man in Berührung kommt, um sich dann umgehend zu verwandeln? Warum sind manche Menschen immun dagegen, haben sie irgendetwas gemeinsam? Vichy lässt den Blick über die Runde bei den Bierkästen schweifen. Der junge Pole, der Typ in Schwarz, der Langhaarige und der Stille mit den Aknenarben – was sollte sie mit denen gemeinsam haben, mit den Grauen draußen auf dem Parkplatz aber nicht? Wieder vibriert die Tür, und vom Hintereingang, der sich auf der anderen Seite des Lagerraums hinter dem Getränkeautomaten befindet, kommt ein grässliches Schaben und Kratzen. Irgendwann werden sie hereinkommen, dann ist es vorbei.

 

 

*

 

 

Die Sprüche haben nicht lange auf sich warten lassen. Der Stille hat als erster das Maul aufgerissen und sich mit wenigen Sätzen zum Rudelführer erhoben. Die Kerle rechnen sich insgeheim aus, ob sie wohl freiwillig mitmachen wird. Ansonsten sind sie in der Überzahl, sie können sich nehmen, was sie wollen, und vom Rest der Leute im Laden kann sie auch keine Hilfe erwarten. Der Rentner hat einen Herzanfall erlitten, aber nur seine Frau versucht ihm zu helfen, die anderen schreien ihn an, die Klappe zu halten. Die Nerven liegen blank, bis zur Eskalation dauert es nicht mehr lange. Dass die Türen noch immer geschlossen sind, ist nur dem Frischfleisch zu verdanken. Man konnte das Knacken schon hören, als draußen lautes, unmelodisches Hupen alles übertönte. Die Bierkisten-Gruppe erhob sich, während alle anderen schon gaffend an den Türen standen. Mehrere Traktoren mit Anhängern kamen die Straße herunter gezuckelt, vorneweg ein Jeep, älteres Modell. Die Männer des Bauerntrecks waren ernsthaft bewaffnet; einer schleuderte den Grauen noch im Näherkommen zwei Molotov-Cocktails entgegen.

 

 

Dennoch dauerte der Kampf nicht allzu lange. Die Zombies schienen zäh und vor allem entschlossen. Ohne Vorsicht oder Rücksicht stürzten sie sich auf die Lebenden, blickten furchtlos und seelenlos in die Mündung von Schrotflinten oder wischten die brennende Flüssigkeit auf ihrem dreckigen Hemd mit ungeduldiger Klaue weg, als sei es nur lästige Insekt. Und wenn die eigene Hand Feuer fing, packten sie damit den nächstbesten Hals, als wäre gar nichts.

 

 

Inzwischen ist es draußen wieder ruhiger geworden, nur das Knacken von berstenden Knochen und das Heulen der Zombies, die einander in die Quere kommen, kann man bis drinnen hören. In wenigen Minuten werden sie sich wieder den Türen zuwenden, um den Nachschlag zu holen. Und hier drinnen steht das Barometer auf Hochdruck. Vichy wird es zu stickig. Die Sprüche der Kerle sollen leichtfertig klingen, so als sei alles nur Spaß, aber sie sieht das primitive Denken in ihren Blicken. Das Reptilienhirn übernimmt. Entweder das oder die Zombies. Sie sehnt sich nach dem Trost, der Energie von Musik, diesem Zaubertrank für die Ohren. Counting all the assholes in the room …

 

 

*

 

 

Das Bier schmeckt trotzdem gut, frisch und herb und kalt. Vielleicht kann es ja die drohende Panik dämpfen, ihm ein wenig Gelassenheit schenken, im Angesicht des Unglaublichen. Diesmal ist es kein Spiel, kein Film, keine Metapher. Die Zombie-Apokalypse findet tatsächlich statt. Und zwar nicht in Texas oder Alaska, sondern gleich hier in Deutschlands Osten. In ganz Deutschland, vielleicht auch darüber hinaus, dazu gibt es keine gesicherten Informationen. Polen soll ja schon die Grenzen dicht gemacht haben, aber wie das konkret aussieht, kann er sich auch nicht vorstellen. Die können ja keine lückenlose Panzerbarriere auffahren. Die Veranstalter sind verdammt optimistisch, dass sie die Bedrohung aussitzen können, bis Hilfe kommt. Was ihnen jetzt zugutekommt, ist die Lage des Festivalgeländes am ehemaligen Kieswerk. Es ist beinah wie eine Burg mit Wassergraben drumherum. Die gesamte Security ist bereits früh am Morgen abberufen worden, die provisorische Brücke zu zerstören, kurz nachdem die ersten ruckeligen Handyvideos eingetroffen waren und die Hannoveraner Mutterfirma am Telefon dazu geraten hat, sich lieber abzuschotten als das Gelände zu evakuieren. Inzwischen geht dort niemand mehr ans Telefon, aber das hat der Verantwortliche, ein grauhaariger Veranstaltungsveteran mittleren Alters, nicht laut gesagt. Er hat von der Bühne aus zur Ruhe gemahnt und alle Besucher gebeten, hier auf dem Hauptgelände versammelt zu bleiben. Die Bierstände sind angehalten, ihre Getränke umsonst herauszugeben, und die meisten Futterbuden haben ebenfalls ihre Kassen weggesteckt. Die Parole scheint klar: Bei Kräften bleiben, bei der unmenschlichen Hitze nicht dehydrieren, keine Massenpanik. Am Leben bleiben, bis Hilfe kommt. Müßig fragt sich der Verkaterte, woher die denn kommen soll, wer da draußen noch übrig ist und ob sich überhaupt jemand um einen Haufen nichtsnutziger Metalfans auf einem Festival schert, wenn es ums nackte Überleben geht. Er hat ein paar dieser Handyvideos gesehen, zum Beispiel das von der zombiefizierten Berliner Polizei, die sich wie in einem schlechten Film durch die Hauptstadt frisst. Wieso ist es so schwer, wirklich zu begreifen, dass dies eben kein Film ist, dass die kollektiven Alpträume, mit denen man sich noch letzte Woche auf der Couch bei Netflix gelangweilt die Zeit vertrieben hat, den Bildschirm verlassen haben und die Realität jetzt in Grau und Rot tünchen? Da blitzt immer mal wieder der Gedanke auf, dass das alles ein gigantischer Fake ist, ein Spiel mit den Ängsten der Menschen, so wie damals Orson Welles‘ Krieg der Welten im Radio. Massenpanik, weil die Zuhörer glaubten, dass Aliens tatsächlich die Erde angriffen. Version 2.0, und die Zombies auf den blairwitchigen Videos, die im Netz kursieren, eben doch nur Schauspieler. Hat nicht einer von denen ausgesehen wie Matthias Schweighöfer?

 

 

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Ein unangenehmer, wabernder Ton klingt vom Eingang herüber und dann bersten krachend die Scheiben. Die Zombies drängen schlurfend in den Markt, stolpern fast übereinander in ihrer dumpfen Gier, die verängstigten Menschen im Innern zu packen. Die weichen zurück, rennen nach hinten, ducken sich hinter Paletten mit Aktionsware oder werfen mit Konservendosen. Ein älterer Mann, der Socken in Sandalen trägt, trifft den Kassierer am Kopf, weswegen die Zombies ihr erstes Opfer nicht einmal mehr zu jagen brauchen. Der Langhaarige und der Stille zerschlagen systematisch Flaschen, bis sie eine ganz Batterie brauner Bierwaffen mit fehlendem Boden haben, mit denen sie die Angreifer abwehren wollen. Der Pole sieht sich hektisch um und schleicht dann gebückt zum Zeitungsregal hinüber, wo er sich mit dem Feuerzeug zu schaffen macht. Vichy runzelt die Stirn und huscht ihm nach, als sie begreift. Er hat vorhin kurz erwähnt, dass die Grenzer überall dort den Ausfall erfolgreich aufhalten konnten, wo sie Wasserwerfer einsetzten. Zumindest vorläufig. Wenn sie durchnässt wurden, trollten sich die Zombies und versuchten, an anderer Stelle neues Futter zu finden. Sie hilft dem Jungen, die Zeitschriften in Brand zu stecken, ignoriert das Keifen einer Kundin, die sich nicht zwischen Gefressenwerden und Verbrennen entscheiden mag. Das Regal steht jetzt bereits lichterloh in Flammen, aber außer der hysterisch schimpfenden Frau hat niemand im Laden Muße, sich zu wundern, was die beiden da treiben. Dann setzt endlich die Sprinkleranlage ein. Für den Stillen zu spät, denn ein Zombie hat ihn bereits an der Gurgel, während der Langhaarige seine Bierflaschen fallen lässt und vor einem weiteren Untoten davonläuft, im Vorbeirennen die Dosen mit Erdnüssen aus dem Regal reißt, in der Hoffnung, der Graue möge darüber fallen. Und das tut er, aber am anderen Ende des Ganges späht bereits sein Kollege um die Ecke und wartet auf Beute. Sein Opfer macht kehrt, will über den Zombie am Boden hinwegspringen, aber der bekommt gerade noch sein Hosenbein zu fassen und bringt den Langhaarigen zu Fall. Der Kollege kommt schlurfend hinzu.

 

 

*

 

 

Kann es wirklich so einfach sein? Lieber dreckig sein und stinken als frisch geduscht und tot, denkt der Verkaterte mit einem ratlosen Grinsen im Gesicht. Auf dem Gelände darf kein Wasser mehr genutzt werden, denn das wird komplett in den Graben geleitet, weil sich das verbleibende Internet offenbar einig ist, dass diese Monster wasserscheu sind. Wenn das funktioniert, bietet es einen weiteren Aufschub, aber für wie lange? So groß sind die Tanks hier beim Kieswerk auch wieder nicht, und bei der Hitze ist das Wasser womöglich schneller verdunstet als die Biervorräte ausgetrunken sind. Regen wäre gut, ein echtes Geschenk des Himmels. Er glaubt nicht daran, dass Hilfe kommt. Jede Maßnahme kann lediglich Zeit schinden, das Unvermeidliche hinauszögern. Offenbar denken noch andere so, denn es gibt bereits Tote. Eine Gruppe von knapp zehn Jugendlichen muss sich abgesprochen haben. Mit einem Taschenmesser haben sie sich oder einander die Pulsadern aufgeschnitten und sind Hand in Hand verblutet, gleich hinter dem letzten Pizzastand. Um Taschenkontrolle hat sich niemand mehr gekümmert, die Securitys haben jetzt andere Aufgaben. Der Veranstalter geht erneut von der Bühne. Er hat Durchhalteparolen ausgegeben, bitte tut das nicht. Wir müssen uns gegenseitig Mut machen, wir sind doch eine Familie. Der Verkaterte reibt sich den Nacken, während er sich Gedanken macht über Mut und Feigheit, Furcht und Liebe. Das Bier schmeckt ihm nicht mehr, er ist zu Cola übergegangen.

 

 

Wenige Minuten später ist der Optimist schon wieder da oben am Mikrofon. Die Musiker haben sich zum Teil bereits unter die Leute gemischt, nur Rob Zombie hockt wohl noch in seinem Tourbus. Schämt er sich, fürchtet er, das Publikum könnte ihn persönlich für diese Plage da draußen verantwortlich machen? Jetzt kündigt der Veranstalter an, dass die Bands nach Plan auftreten werden. Verhaltener Jubel aus der Menge. Den meisten ist jede Ablenkung recht. Viele sind schon völlig betrunken, aber glücklicherweise sind noch keine Aggressionen hochgekocht. Jedenfalls hat der Verkaterte nichts dergleichen mitbekommen, nicht die kleinste Prügelei. Man sagt ja immer, dass Metaller friedliche und glückliche Menschen sind.

 

 

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Einige der Zombies verlassen mit hastigen, aber seltsam steifen Schritten den Markt, während anderen das Wasser nicht allzu viel auszumachen scheint. Kunden und Angestellte schreien um ihr Leben oder hauchen es röchelnd aus, während die Grauen sich über sie hermachen. Der Typ in Schwarz hält einige mit geschüttelten Sektflaschen in Schach. Immer wenn einer der Zombies ihm zu nahe kommt, löst er den Korken und der Angreifer wird mit dem prickelnden, lauwarmen Nass geduscht. Dass gefällt den Monstern nicht, aber der Sektvorrat schrumpft rasch, und auf den immer größeren Rinnsalen aus Sprinklerwasser, Bier, Sekt und der Pisse derjenigen, die Angst oder Harndrang nicht mehr zurückhalten konnten, gleiten immer wieder Menschen aus. Opfer, Täter, es macht keinen Unterschied. Alles was sich in diesem Laden noch bewegt, ist inzwischen durchnässt, verzweifelt und kriecht oder krabbelt zwischen den Regalen umher. Lebend kommt hier keiner raus.   

 

 

Aber damit kann Vichy sich nicht abfinden. Sie nutzt einen unbeobachteten Moment, als drei Zombies den Polen überwältigen und mit sich zu Boden reißen. Er schreit nur einmal erstickt auf, dann wendet sie sich ab und verschwindet zwischen einem Stapel leerer Wasserkästen und dem Getränkeautomaten. Der Lagerraum dahinter ist menschen- und zombieleer. An der rückwärtigen Tür befindet sich ein elektronisches Schloss, jedenfalls nimmt sie das an, denn daneben ziert ein großes Bedienfeld mit Nummernblock und mehreren runden Schaltern die Wand. Sie probiert dennoch die Klinke, aber da bewegt sich nichts. Ein hastiger Blick durch den Raum, über das Stehpult, die Pinnwand. Kein Schlüssel, nichts. Was soll’s, der Tod wartet sowieso auf sie, da kann sie jede Kombination riskieren. Sie drückt wahllos auf den Tasten herum, probiert dann nacheinander die Schalter aus. Beim zweiten Schalter wird das Geschrei aus dem Markt lauter. Sie lauscht kurz hinter sich. Wahrscheinlich hat sie die Sprinkleranlage ausgemacht. Aber die Tür bleibt geschlossen, was sie auch tut. Zweimal tief durchatmen, dann drückt sie die Tastenkombination eins, zwei, drei, vier. Das Klicken des Schlosses hört sie auch über den Lärm aus dem Laden hinweg. Sie packt die beiden Kleiderbügel aus Zedernholz fester und stößt mit dem rotbeschuhten Fuß die Tür nach draußen auf. Schön, wenn das Wochenangebot bei Tchibo sich auch als Waffe eignet. Die Mittagssonne blendet sie und die Hitze nimmt ihr beinah den Atem. Blinzelnd schleicht sie sich zum großen Müllcontainer hinüber. Weit und breit keine Zombies. Sie lauscht angestrengt in alle Richtungen, hält Ausschau nach verräterischen Schatten, huscht mit erhobenen Bügeln vorwärts. Dann entlang der Wand, nähert sich mit wild hämmerndem Herzen dem Parkplatz auf der Vorderseite des Supermarkts. Der Lärm des grauen Gesindels wird lauter, aber die meisten scheinen drinnen zu wüten. Auf dem Platz kann sie von hier aus nur ein Grüppchen entdecken, dass sich um etwas Kleines, Zappelndes streitet. Dass kann kein Mensch sein, aber es wehrt sich offenbar wie ein wilder Tiger. Letztlich wird die Neugier auch dieser Katze zum Verhängnis.

 

 

Vichy wendet schaudernd den Blick ab und konzentriert sich auf ihr Ziel. Der metallicrote, alte Audi steht auf einem Randplatz, aber ziemlich weit vorne. Das sind sicher zwanzig, dreißig Meter. Direkt vor dem Markt parkt ein Van, was ihr die ersten drei oder vier Meter erleichtert, da sie sich dahinter entlangschleichen kann. Aber dann liegt mehr oder weniger offener Asphalt ohne Deckung vor ihr. Ihr fällt keine Ablenkung ein, mit der sie die Aufmerksamkeit der Zombies von sich weg dirigieren könnte. Im Gegenteil, jetzt kommen mehrere von ihnen aus der geborstenen Eingangstür geschlurft. Die Katzenmörder wenden sich den Kollegen zu, die Gruppe rotten sich auf halbem Weg zusammen. Die Laute, die sie ausstoßen, klingen nach tiefem Stöhnen und winselndem Fiepen. Als einer dem anderen etwas aus der Klaue reißt und sich eine Art Handgemenge entspinnt, rennt sie los. Bei den ersten Schritten hat sie das Gefühl, dass ihre Beine den Befehl nicht verstanden haben und im nächsten Moment unter ihr wegknicken werden. Aber dann fängt sie sich und lässt im Laufen den ersten Bügel fallen, zieht den Autoschlüssel aus dem Hosenbund. Mit wenigen hastigen Sätzen ist sie beim Wagen, drückt mit dem Daumen auf den Schlüssel. Nie hat sie ein schöneres Geräusch gehört als das doppelte Biepen, das die Türentriegelung begleitet. Hinter ihr Stöhnen und Schlurfen, ganz nah. Sie reißt die Tür auf und gleitet hinters Steuer, wirft dem ersten Zombie den Kleiderbügel an den Kopf, zieht die Tür zu und drückt hektisch auf die Verriegelung. Schon beginnt der Wagen zu wackeln, weil mehrere wütend und hungrig daran rütteln. Sie zittert, als sie den Motor anlässt, stößt mit dem Handrücken unsanft gegen die vorstehenden Knöpfe der Lüftung, des Radios. Sie schüttelt die Hand aus und schrickt heftig zusammen, als die Musik mit voller Lautstärke aus den Boxen wummert. Das Schlagzeug schnell, die Gitarre ein echtes Brett, die Stimme wie ein heulender, heiserer Elvis. Sie atmet tief ein, um sich aufs Lenken konzentrieren zu können, will gerade die Lautstärke runterdrehen, als der Wagen zu wackeln aufhört.

 

 

Ringsum weichen die Zombies zurück, ihre Gesichter wirken beleidigt, angewidert und fast so lebendig wie früher, als sie noch lebende Menschen waren. Was ist das? That’s the way it all will end. Die alone you never will. Hell is here, unleash your tail. Es muss die Musik sein! Vichy tritt aufs Gas und nietet gleich drei der Zombies um, als sie mit quietschenden Reifen vom Parkplatz rast. Auf der Straße stehen noch immer die Traktoren der tapferen Bauerngarde, von der kaum etwas übriggeblieben ist. So viel mehr Glück als Verstand hat sie. All die anderen im Markt sind verloren, sie hat auch gar nicht versucht, jemanden zu retten, sie hat sich einfach davongestohlen und sie ihrem Schicksal überlassen. Darüber wird sie später nachdenken, jetzt muss sie wissen, was aus dem Festival geworden ist. Da die Straßen wie leergefegt sind, dauert der Weg nur wenige Minuten. Ihr Herz schlägt erneut schneller, als sie die Bauten des alten Kieswerks erspäht, dann die große Bühne, die Flaggen. Sie dreht das Radio im Wagen leise, aber die Musik ist noch da. Grinsend hält sie darauf zu.           

 

  

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Der Kater ist längst weg, Konterbier und Cola haben ihn vertrieben. Er ist jetzt hellwach und vorn auf der Bühne rockt Rob Zombie. Seine Stimme klingt ein wenig brüchig, denn scheinbar kann man auch Schockrocker noch schocken. Eigentlich wäre er morgen Abend dran mit seinem Auftritt, aber das bierselige, eschatologisch gestimmte Publikum hat nach ihm gerufen, im Chor, minutenlang. Gabba, gabba hey, a bebop a lula, wham, bam, thank you ma’am, she wants to do ya! Nicht gerade sinnstiftende Weisheit, aber die Köpfe nicken dankbar im Takt, das Rocken vertreibt die Furcht, der Rhythmus hält sie in Schach, keiner flippt aus. Es könnte fast ein ganz normales Festival sein. Er hat immer noch keinen Zombie zu Gesicht bekommen, die Grauen nur verschwommen, verwackelt auf dem Display seines Handys gesehen.

 

 

„Der Alte muss sich wohl erst noch warmsingen.“ Der Hellwache schaut erstaunt zur Seite. Da steht sie neben ihm, noch schöner als gestern Abend, unversehrt und so lebendig, dass es ihm die Kehle zusammenschnürt. Triefnass und die Hosenbeine schlammverschmiert. Spontan umarmt er sie, und sie stößt ihn nicht zurück, lässt sich halten, entspannt sich in seinem festen, sicheren Griff. „Wo warst du denn?“, flüstert er in ihr Haar.

 

 

Sie löst sich von ihm, hebt die rechte Hand und präsentiert den grün-roten Apfel. Mit einem Lächeln, das zwischen verschmitzt und tieftraurig schwankt, sagt sie leise: „Und Tampons hab‘ ich auch gebraucht.“

 

 

Mehr muss sie gar nicht sagen, denn in ihrem Blick liest er den Zombieangriff und das viele Blut ebenso wie die Einladung einer Überlebenden. Er nimmt den Apfel entgegen und beißt kräftig hinein. Saftig und süß, ein Versprechen von Sommer und Paradies. Die Musik umhüllt sie beide wie ein schützender Schleier, die Sonne brennt auf ihre Köpfe herab und sie wenden sich wieder der Bühne zu. Sie nimmt ihm den angebissenen Apfel aus der Hand und gönnt sich selbst den Genuss. 

 

 

Drei Stunden und mehrere Bands später stehen sie immer noch nebeneinander, aber jetzt am Getränkestand, wo die Geschichte am Vorabend bei Wodka begann. Die Musik wummert nach wie vor, pausenlos, die Leute trinken, rocken, verbrüdern sich am Metstand und sind nicht länger auf der Suche nach Ärger oder Mädchen. Viele sind zusammengerückt, küssen sich, sitzen im Kreis und wippen gemächlich im Takt der Musik mit. So wird das weitergehen, bis alle heiser sind oder das Stromnetz zusammenbricht. Der Sonne steht immer noch hoch am Himmel. Der Untergang lässt auf sich warten.