Auf der Suche nach Bowie. Und nach meinem Alter Ego?

[Dies ist meine Übersetzung von Gloria Steinbecks Short Story "Bringing Bowie Back." Die englische Originalversion findet ihr hier.]

 

Auf der Suche nach Bowie

 

 

Natürlich sollte ich eigentlich nicht darüber reden. Mit niemandem darüber reden. Aber es ist nicht leicht, das alles für mich zu behalten, in diesem mickrigen, viel zu gesprächigen Hirn. Also schreibe ich es hier auf, wo es sicher ist, in meinem virtuellen Tagebuch auf dem Computer. Vielleicht hört Meister Hirn dann auf zu nerven.

 

 

In Ordnung. Wo fangen wir an? Ich saß also in einem Zug, der quer durch das ganze Land fuhr, von der Ostküste zur Westküste, und war bereits schier zu Tode gelangweilt, als ich die ersten Nachrichten sah. Verdammt, David Bowie ist tot? Sicher, dass das nicht wieder nur eine Ente ist? Noch gar nicht lange her, dass jemand genau diese Nachricht verbreitet hat, und dann hat sich doch alles als Lüge herausgestellt. Bitte lass es auch diesmal so sein.

 

 

Nein. Immer neue Nachrichten, Beileidsbekundungen, Bestätigungen, und die ersten Nachrufe. Darüber vergaß ich ganz plötzlich meine Langeweile, die noch eine Stunde zuvor unerträglich schien. Wisst ihr, ich war nicht einfach unterwegs zur Arbeit oder sowas, ich musste tagelang in diesem Zug ausharren. Amtrak hatte mich angeheuert, mich beauftragt, über diese großartige Erfahrung einen Artikel zu schreiben. Leider war es kein bisschen großartig. Eigentlich war es sogar so schlimm, dass ich nichts weiter schreiben wollte als dieses eine Wort: STERBENSLANGWEILIG!!!

 

 

Und dann war da dieser eine Tweet. Das ist doch Scheiße. Gebt mir ein Space Shuttle, von jeder Weltreligion einen Priester, das Horn eines Einhorns, und eine Rolle Gaffatape. Wir holen Bowie zurück. (Kann man übrigens nachlesen, der Typ heißt Scott Lynch und schreibt Fantasy.) Ich fand das irgendwie süß und ermutigend … und es brach mir das Herz.

 

 

Ich scrollte durch die Antworten, auf der Suche nach weiteren niedlichen Bowie-Fans, schätze ich. Ich kann gar nicht sagen was mich getrieben hat, denn normalerweise meide ich das Lesen von Antworten auf Twitter, da sie zum größten Teil hässlich, ketzerisch und giftig sind. Aber vielleicht habe ich mir auch einfach gewünscht, dass es wirklich möglich wäre. Da rein zu gehen (wo rein eigentlich?) wie McGyver auf Sternenstaub und den Duke zurückzubringen. Denn das war er für mich, der Duke, Herrscher meiner Hütte, dessen königliche, glitzernde, außerirdische Musik mein Hirn und den Raum um mich herum erfüllte. Ja, ich war mal ein großer Bowie-Fan gewesen. Und meine Begeisterung hat auch nicht irgendwann aufgehört, sie ist nur in den Hintergrund getreten. Hat ein Schläfchen gemacht inmitten der andauernden Langeweile, zu der mein Leben geworden ist. Ist eingeschlafen, so wie alles, das mir je etwas bedeutet hat. Ach Scheiße.

 

 

Und dann fiel mir dieser eine Tweet ins Auge und jagte mir einen Schauer den Rücken hinunter. Eine der Antworten auf Scott. Er ist nicht bei uns. Ich wünschte, e. Der Verfasser nannte sich @72bulC, und ließ seine Sätze offensichtlich unvollendet. Als ich die Antwort anklickte, um zu sehen wer sich hinter diesem Handle verbarg, informierte mich Twitter, dass der Account gelöscht worden war. HÄ? Mir wurde noch kälter im Nacken und ich rollte die Schultern, um das Gefühl loszuwerden.

 

 

Club 27, nur rückwärts. Diese Erkenntnis weckte mich auf, oder vielleicht war es auch nur die erste Aktion meines Gehirns, nachdem ich aufgewacht war, mich mit dieser nutzlosen, willkürlichen Information zu versorgen. Aber als meine Augen endlich wieder ganz offen waren, hab ich sie mit dem Kram verknüpft, der mich beschäftigt hatte, bevor ich in meinem Abteil eingeschlafen war. Bowies Tod, dieser Tweet mit dem Einhorn und dem Gaffatape, und die merkwürdige Antwort, wie eine Entschuldigung. Er ist nicht bei uns … und noch irgendwas. Der Account mochte ja gelöscht worden sein, aber mein plapperndes Hirn wollte die Sache einfach nicht auf sich beruhen lassen. Es reimte sich offenbar gerade zusammen, wie ich mir den blödsinnigen Twitternamen erklären sollte. Klar, das hieß Club 27, nur rückwärts. Also irgendein verdammter Spaßvogel, der sich für clever hielt. Aber was sollte der ganze Blödsinn denn bedeuten? Dass Bowie, der erst vor kurzem 69 geworden war, sich nicht in der gleichen Abteilung des Himmels oder der Hölle befand, wo sich all jene Berühmtheiten versammelten, die allzu jung gestorben waren? Amy Winehouse, Kurt Cobain, Jimi Hendrix, Jim Morrison, Brian Jones … alle mit 27 gestorben, also wieso sollte ein älterer Mann wie der Duke überhaupt „bei ihnen sein“? Ich verfluchte mein Hirn dafür, dass es sich mit der möglichen Bedeutung eines dahergelaufenen Tweets befasste. Ich brauchte eine Tasse Kaffee und irgendwas anderes, womit ich mich beschäftigen konnte. Meine Güte, ich war bei der Arbeit eingeschlafen, in diesem gottverlassenen Zug nach Nirgendwo-Town, USA. Wenn das nicht der Beweis war, dass Langeweile einen umbringen kann, dann weiß ich auch nicht. Wahrscheinlich bringt es einen auf Dauer ebenso um, wenn man versucht, den Sinn des Lebens auf Twitter zu finden.

 

 

Aber nach diesem unfreiwilligen Nickerchen ließen sich die Gedanken nicht mehr abstellen und das Prickeln kam zurück, wurde stärker, bis es sich anfühlte, als ob Strom durch den unteren Teil meiner Wirbelsäule floss, gleich oberhalb des Steißbeins. Das war alles andere als angenehm, soviel kann ich euch sagen. Und mein Verstand ging mir gehörig auf den Wecker, denn ich weigerte mich hartnäckig, mir seine Verschwörungstheorien anzuhören. Wenn alles andere später nicht passiert wäre, und wenn ich es heute nicht besser wüsste, dann wäre es mir peinlich, jetzt zuzugeben, dass ich mich immer mehr in diesen einen gelöschten Tweet und seinen verschwundenen Absender hineinsteigerte. Ich biss mich regelrecht daran fest. Und ich wusste, es gab nur einen Weg, da wieder rauszukommen, nur eine Person, die Ordnung in diesen Wirrsinn und mich wieder auf die Spur bringen konnte.

 

 

Ich habe da diesen Freund. Er weiß einfach alles, denn er arbeitet für eine dieser Regierungsorganisationen, die so geheim sind, dass nicht mal die Regierung weiß, dass sie existieren. Nennen wir ihn doch einfach Ed. So nenne ich ihn am liebsten, in meinem armseligen Versuch, ihn zum Whistleblower zu machen, oder ihn dazu zu bringen, sein unglaubliches Wissen in irgendeiner Form publik zu machen. Wissen, das einem das Hirn explodieren lässt. Er weiß eben Dinge, von denen die meisten von uns nicht einmal ahnen, dass man sie wissen kann. Wenn man sich zum Beispiel fragt, welche der unzähligen Verschwörungstheorien oder abgedrehten Filmhandlungen auf wahren Begebenheiten beruhen, dann könnte er einem die Antwort geben. Das ist mein Freund Ed. Seinen richtigen Namen kann ich nicht verraten, weil er mich dann umbringen müsste. Das ist kein Witz.

 

 

 

Also. Da mein Hirn mich ja nicht in Ruhe lassen will mit dieser Story über Bowie, der nicht beim Club 27 ist, habe ich Ed eine Nachricht geschickt. Von dem Tweet konnte ich ja keinen Screenshot mehr machen, aber ich hab ihm in ein paar Sätzen erklärt, worum es diesmal geht, und ihn gebeten, ob er für mich herausfinden kann, wer hinter dem eben gelöschten Account steckt. Für Leute wie Ed ist das Kinderkram. Macht er mit links. Ich wollte eigentlich bloß wissen, welches Arschloch es denn so lustig fand, sich als Haufen musikalischer Legenden auszugeben, die jung gestorben waren. Club 27, ha ha. Für mich kein Witz, sondern eine Tragödie. Ich stellte mir einen Penner mit schwitzigen Händen vor, der im Keller seiner Eltern in Idaho lebt. Und der zurechnungsfähige Teil meines Hirns wollte ihm eben die Meinung geigen. Die zwangsgestörte Plaudertasche in meinem Kopf wollte allerdings etwas anderes; ich war nicht einmal sicher, was das genau war. Bowie zurückbringen? Das Prickeln wurde zu einem kurzen, schmerzhaften Stich. Aua. Ed, bitte antworte schnell.

 

 

*

 

 

Ed gab mir eine Adresse. Es dauerte keine 20 Minuten, bis er antwortete, und seine Nachricht erschien mir arg kryptisch. 10 Turtleback Rd. TorC. Schon wieder eine sinnlose Buchstabenfolge, die mit einem großen C endete. Mit den Gedanken immer noch bei dem vermaledeiten Tweet las ich es zunächst rückwärts, logisch. Crot Dr. Kcabeltrut 01. Okay, dachte ich, ein Arzt mit einem echt ausländisch klingenden Namen. Und was soll ich damit jetzt anfangen? Glücklicherweise hatte ich mir inzwischen einen Pappbecher Kaffee geholt. Nach einem verständnislosen Moment schoss die dunkle Koffeinbrühe meine Hirnzellen wieder in die richtige Umlaufbahn. Ach so, das war schlicht eine Anschrift, irgendwo in … Torrance, Kalifornien oder so. Um keine weitere Zeit mit Spekulationen zu verschwenden, gab ich das Ganze genau so bei Google ein.

 

 

Amerika ist erstaunlich reich an merkwürdigen Städtenamen. TorC, auch bekannt als Truth or Consequences, Wahrheit oder Pflicht, New Mexico. Gab’s da nicht mal einen Film mit diesem Titel? Wollte Ed mich verarschen? Wenn nicht, dann klang Truth or Consequences doch irgendwie … bedrohlich, unheilverkündend, und eindeutig. Dieser Ort flehte mich doch geradezu an, die Wahrheit herauszufinden, oder nicht?

 

 

Das ist doch Scheiße, sagte ich laut zu mir selbst, wie ein Echo des ersten Tweets, der mir diese Suppe eingebrockt hatte. Bowie zurückholen. Ich musste sofort aus diesem Zug aussteigen. Falls ihr euch das auch schon gefragt habt, es handelte sich nicht um den berühmten California Zephyr, denn der hätte mich in nur drei Tagen den ganzen Weg von Emeryville (bei San Francisco) nach Chicago gebracht. Es war auch nicht der Lakeshore Limited, der den Rest der Strecke abgedeckt hätte, von der Windy City bis zum Big Apple, New York. Nein, ich hockte hier in der jüngsten Variante der Idee, einmal von Küste zu Küste zu rattern. Amtrak nannte das Ding großmäulig den „Goldrausch“, aber gerauscht wurde hier kaum. Nicht nur war der Service lausig, auch die Geschwindigkeit hätte eher zur „Goldenen Schnecke“ gepasst. Die Fahrt von der Ost- zur Westküste dauerte allen Ernstes zehneinhalb verdammte verlorene Tage! Vielleicht versteht ihr meine Langeweile jetzt. Mein Job bestand darin, die ganze Zeit in diesem Höllenzug zu hocken und über die besondere „Erfahrung“ zu schreiben. Vielleicht fragt ihr euch jetzt, was ich im Gegenzug dafür bekam. Eine Freifahrt mit Kost und Logis, das war’s.

 

 

Also zum Teufel damit. Ich hatte eine Adresse in New Mexico, ein stichelndes Prickeln im Rücken und hörte Changes auf voller Lautstärke in meinem Kopf. Turn and face the strange. Die Karten waren neu gemischt und ich würde diesem Sarg auf Schienen Auf Wiedersehen sagen. Ich würde sogar die Notbremse ziehen, wenn es nicht anders ging. Ich schickte meinem Freund Ed eine kurze Nachricht, um ihn wissen zu lassen, dass ich dem Knochen hinterherjagen würde, den er mir hingeworfen hatte. Ich fand das nur fair, und dann beschloss ich, ihm ganz genau zehn Minuten zu geben, falls er mir eventuell sagen wollte, das ich das lieber bleiben lassen sollte. Oder mir noch ein paar weitere Hinweise geben. In der Zwischenzeit sah ich auf dem Reiseplan nach, wann der nächste reguläre Halt geplant war. Oh, sehr gut, Denver, aber leider erst in einigen Stunden. Kansas war so anstrengend in seiner Eintönigkeit; da war es kaum ein Wunder, dass meine Langeweile auf der endlosen Ebene ihren Höhe- (oder eben Tiefpunkt, wie man’s nimmt) erreicht hatte. Wir hatten Kansas City ganz früh an diesem Morgen verlassen, und der verdammte Zug rollte immer noch im Schneckentempo gen Westen, während ich jetzt im Internet nach billigen Flügen von Denver nach Albuquerque suchte.

 

 

Die Langeweile zog sich weiter hin und brachte mich beinahe um den Verstand, aber dann ging alles wie am Schnürchen, als der Zug endlich die ‚Mile High City‘ erreichte. Echt jetzt, Denver? Das ist der Spitzname, den du dir ausgesucht hast, als Städte sich coole Spitznamen aussuchen konnten? Da stelle ich mir doch automatisch eine Flugzeugtoilette vor und … ach, egal. Vom Bahnhof habe ich ein Taxi zum Flughafen genommen, habe eingecheckt und bin durch die Sicherheitskontrolle, und rein in den Flieger. Der Flug dauerte kaum länger als eine Stunde, und dann bin ich auf einen dieser Überlandbusse umgestiegen, wie ein Greyhound, nur weniger schmuddelig. Der hat mich direkt in die Kleinstadt am Rio Grande gebracht, in knapp zweieinhalb Stunden. Truth or Consequences, New Mexico. Für mich sah das zwar eher aus wie Nirgendwo-Town, USA, aber gut. Es war dunkel, es war schon nach zehn Uhr abends, und ich hatte nicht weiter als bis hierher geplant. Kaum dass der Bus wieder verschwunden war, kamen mir die Geschichten wieder in den Sinn und mir wurde ganz mulmig. Ich hatte den Fehler gemacht, alles zu googeln, was ich über diesen Ort finden konnte, denn ich wollte mir ein Bild davon machen, was mich wohl erwarten mochte, wenn ich zu der Adresse kam, die Ed mir geschickt hatte. Einige der Dinge, auf die ich dabei gestoßen war, klangen ja vergleichsweise niedlich, wie die Sache mit der Namensänderung: Dieser Ort hatte einmal Hot Springs geheißen, genau deswegen: Heiße Quellen, die überall in der Gegend aus dem Boden blubberten. Die Menschen, die in dem verschlafenen Haufen von Häuschen lebten, hätten gern Geld mit ihren heißen Quellen verdient, aber der Tourismus-Boom wollte sich einfach nicht einstellen. Und dann verkündete der Moderator einer Radio-Quizshow, dass man auf der Suche nach einem Städtchen war, das sich nach ebendieser Show benennen würde, Truth or Consequences. Das war 1950. Die Bewohner von Hot Springs witterten ihre Chance auf landesweite Bekanntheit … aber auch diesmal wurde nichts daraus; den Tourismus interessierte der Ort auch mit dem neuem Namen nicht die Bohne, aber jetzt hieß die Stadt eben so. Ich wusste nicht recht, ob ich die Geschichte zum Totlachen oder einfach nur tragisch finden sollte.

 

 

Aber es gab da ja noch diese andere Geschichte, die leider ebenso wahr ist: Über mutmaßlich viele Jahre hinweg hat hier in der Umgebung der sogenannte Toy Box Killer, der Spielzeugkistenmörder sein Unwesen getrieben. David Parker Ray hat geschätzt 60 Frauen gekidnappt, gefoltert und getötet, und das mit der Hilfe seiner Freundin und deren Tochter, sowie weiteren Komplizen, die auch alle ein bisschen ‚mitgespielt‘ haben. Die grausigen Verbrechen fanden in einem speziell dafür ausgebauten Wohnwagen statt, der beim nahegelegenen Elephant Butte stand. Ray hatte dort einen Gynäkologenstuhl eingebaut und den Wagen mit allerhand Ketten und Fesseln und Peitschen und anderen Folterwerkzeugen ausgestattet. Leichen hat man nie gefunden, aber eins seiner Opfer konnte fliehen, nachdem die Frau einem der Komplizen einen Eispickel in den Hals gerammt hatte. Der Stoff, aus dem nur die verdrehtesten Alpträume gemacht sind. Immerhin ist Ray 2002 im Gefängnis gestorben, allerdings hätte er bei dem verhängten Strafmaß von 224 Jahren noch bis 2223 einsitzen müssen. Er hat den einfachen Weg gewählt und einen Herzinfarkt erlitten.

 

 

Nun stand ich also in der Dunkelheit an einer verlassenen Kreuzung, nur wenige Meilen von dem Ort entfernt, wo all das geschehen war, und laut Wikipedia stand der Wohnwagen immer noch dort. Ich ermahnte mein hyperaktives Hirn, jetzt nicht über Serienmörder nachzudenken, sondern sich auf die Mission zu konzentrieren … und dann musste ich mich endlich ernsthaft fragen, wie genau die Mission lautete. Ich war gelangweilt und neugierig gewesen, hatte dieses Prickeln gespürt. Und ich war traurig gewesen, traurig über Bowies Tod. Wieso also war ich jetzt hier? Was war meine Mission? Bowie zurückholen?

 

 

Bevor ich dem hysterischen Lachen nachgeben konnte, das in mir hochstieg, schaltete ich das GPS auf meinem Handy ein und gab die Adresse ein, die Ed mir gegeben hatte. Großartig, das sah aus, als läge der gesuchte Ort näher am … Elephant Butte. Für den Bruchteil einer Sekunde erwägte ich, ob Ed mich zum Wohnwagen des Toy Box Killers geschickt hatte, ob er mir einen echt kranken Streich spielen wollte, mir all die dummen Fragen heimzahlen, die ich ihm über die Jahre gestellt hatte. Aber diesen Gedanken schüttelte ich sogleich energisch wieder ab und stapfte los. Nennt mich ruhig verrückt, aber ja, ich war im Begriff, gute drei Meilen unbekanntes Terrain in absoluter Dunkelheit zu durchqueren, und alles was ich hatte, um mir den Weg zu weisen, war mein verdammtes Telefon. Die Besessenheit, etwas herauszufinden, vielleicht sogar die Wahrheit, hatte mich im Griff, und zwar vollkommen. Vielleicht stimmte es auch einfach, was man über New Mexico sagt. Nicht umsonst nennt man den Staat auch ‚Land of Enchantment‘. Vielleicht war ich verhext, und mein Hirn nur mehr ein williger Erfüllungsgehilfe. Ich marschierte durch die Nacht, dachte an den Koboldkönig, sein Labyrinth und seinen skandalös scharf aussehenden Lidschatten. Dachte an Major Tom, floating in a tin can, far above the world. In der Nähe gab es keine großen Städte, daher leuchteten hier unzählige Sterne wie zum Greifen nahe. Ich dachte an sein China Girl, wie sie ihren roten Lippenstift trotzig mit dem Handrücken verwischt. Setzte einen Fuß vor den anderen, die Gedanken wirbelten, die Musik dudelte in meinem Kopf. Ich fragte mich, ob ich bereits durchgedreht war. Was zur Hölle machte ich hier draußen? Ich sollte in diesem ewig langsamen Zug nach Entenhausen sitzen, irgendetwas Nettes über die einmalige Erfahrung schreiben, und dafür einen Gehaltsscheck bekommen.

 

 

Das GPS zeigte mir an, dass ich mein Ziel fast erreicht hatte. Aber die Turtleback Road war kaum mehr als ein staubiger Pfad, der wahrscheinlich zu dem Hügel vor mir hinaufführte, einem fetten, unförmig geduckten Klacks in der Landschaft, der den vollmundigen Namen Turtleback Mountain trug. Schildkröte, ja vielleicht, aber ein ausgewachsener Berg war das nicht. Ich war höchst skeptisch, ob das der richtige Weg war, und all meine vagen Ängste und Bedenken brachen plötzlich mit voller Wucht über mich hinein. Da war nur noch Elend und das allmähliche Heraufdämmern meiner eigenen Dummheit, viel zu spät. Ich ging dennoch weiter, was hätte ich auch sonst tun sollen? Und genau in diesem Moment rief eine krächzende, träge Stimme aus dem Dunkel vor mir: „Hey! Wer ist da? Jim, bist du das?“

 

 

Ich erstarrte. Das Prickeln wurde zu einer eiskalten Hand, die mir den Rücken hinaufglitt. Ich wollte antworten, aber mein Hals war mit einem Mal so trocken wie die Wüste ringsumher. „Jim?“, rief die Stimme noch einmal und klang jetzt ungeduldig. Kämpfen oder wegrennen? Aber der Kerl hörte sich alt an. Korpulent und langsam. Wenn er keine Schrotflinte dabei hatte, dann wäre ich im Zweifelsfall sicher schneller als er. Also schluckte ich und machte ein paar Schritte in seine Richtung, und dann fand ich endlich auch meine Stimme wieder. „Nein. Ich heiße Barry. Barry Decker. Bitte nicht schießen.“

 

 

Er fluchte unterdrückt und dann hörte es sich an, als ob er weglaufen wollte, aber innerhalb weniger Sekunden hatte ich ihn eingeholt. Er sah genau so aus, wie seine Stimme geklungen hatte. Alt, speckig und langsam. Als ich das Handy drehte, um ihn im Licht des Displays besser sehen zu können, erspähte ich den dunkelblauen Trainingsanzug aus Polyester, den er trug, mit mehreren roten Streifen entlang der Arme und Beine. Er wirkte wie eine Kreuzung aus dem Marshmallow Man und Sue Sylvester aus der Serie Glee. Das Gesicht unter der dunkelblauen Feinstrickmütze wandte er ab; offenbar war er jetzt derjenige, der Angst vor mir hatte.

 

 

„Sorry, Mann. Ich wollte dich nicht erschrecken, ehrlich, aber mir ist gerade selbst fast das Herz in die Hose gerutscht. Alles in Ordnung bei dir?“ Er atmete jetzt ganz schwer und ich fing an, mir ernsthaft Sorgen zu machen. Vielleicht hatte er sich verirrt, oder er war ganz einfach irre, oder … Elvis. Er war Elvis. Als er einen tiefen Seufzer ausstieß und mir endlich den Kopf zuwandte, konnte ich sein altes Gesicht deutlich erkennen. Es bestand kein Zweifel. Der King, am Leben und … naja nicht mehr ganz frisch vielleicht. Ich hoffte bloß, dass ich ihm keine Herzattacke verpasst hatte, mit meinem unvermittelten Auftauchen hier im Dunkeln. Er sah aus, als würde er es überleben, nur ein bisschen mürrisch; und verschnupft vielleicht wegen der Tatsache, dass ich sein stoppeliges Opagesicht gesehen hatte. Ich dagegen war wahrscheinlich leichenblass geworden und konnte spüren, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich, während mein Herz wie wild hämmerte. Hatte er mir eine Herzattacke verpasst? Mir war irgendwie schwindelig und sein Gesichtsausdruck wechselte von griesgrämig zu besorgt. Er packte mich am Arm und sagte: „Komm schon, mein Junge, fall‘ mir jetzt hier nicht in Ohnmacht. Komm zu dir, na los.“

 

 

Und dann war da plötzlich noch eine andere Stimme, ein Stück weiter entfernt. „Aaron? Komm wieder nach drinnen, aber sofort! Gottverdammtehurendreckscheiße.“ Vielleicht habe ich mir den letzten Teil auch nur eingebildet. Elvis zuckte zusammen und zwinkerte mir dann mit einem Schulterzucken zu, bevor er sich umdrehte und entfernte, in Richtung der zweiten Stimme. Oh nein, mein Freund. Ich musste wissen, wohin er ging und was zur Hölle hier los war. Ich rief ihm also nach und holte Elvis mit Leichtigkeit ein. Er drehte sich zu mir um, mit einer Geste, die mich gleichzeitig zum Schweigen bringen und vertreiben sollte, aber bevor einer von uns auch nur ein weiteres Wort sagen konnte, war die Welt mit einem Mal hell erleuchtet. Für einen Augenblick war ich geblendet und kniff die Augen gegen das unerwartete Flutlicht zusammen. Aber dann packte Elvis mich erneut am Arm und schirmte seine Augen gegen das grelle Licht ab; bevor er heiser brüllte: „Das geht schon in Ordnung. Mach die verfluchten Lichter aus, Janis!“

 

 

*

 

 

Es stimmte also. Er war nicht bei ihnen. Der Duke war kein Bewohner der wohl merkwürdigsten Verwahranstalt der Geschichte. Dafür lebten dort Jim Morrison, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Kurt Cobain, ja selbst Amy Winehouse, Gott hab ihre Säuferseele selig. Sie war diejenige gewesen, deren Rastlosigkeit und Langeweile sie dazu verleitet hatte, einen Twitter-Account anzulegen. Sie war der Spaßvogel, der Club 27 rückwärts als Handle gewählt hatte. Sie hatte getweetet: Er ist nicht bei uns. Es stellte sich heraus, dass der nächste Satz vollständig gelautet hätte: Ich wünschte, er wäre hier. Aber Janis, „die Schnepfe mit dem Kontrollzwang“, wie Elvis sie mir gegenüber bezeichnet hatte, erwischte Amy und löschte sofort den gesamten Account. Schließlich sollte niemand etwas erfahren, also stand außer Frage, dass aus diesem Sammelbecken für Menschen, die allgemein als tot galten, jemand Tweets versandte. Klar, sie hatten Internet, sie schienen sogar mit Hilfe des verdammten Internets schon länger auf dem Laufenden über die Welt geblieben zu sein als der Rest der Menschheit, aber sie hatten in all den Jahren niemals auch nur das kleinste bisschen nach draußen geschickt, ganz gleich, auf welchem Kanal: E-Mail, soziale Medien, nichts davon – bis jetzt, bis zu diesem einen, schicksalhaften Tweet, den Amy geschrieben, aber nicht einmal zu Ende gebracht hatte. Sie sah jetzt sehr schuldbewusst drein, aber ich verstand ihre Motivation nur allzu gut. Meine eigene Langeweile in diesem schneckengleichen Zug war so furchtbar gewesen, wie viel schlimmer musste sich das für sie anfühlen? Wie viel schlimmer musste Kurts Langeweile sein, oder die von Elvis oder Jimi? Das ging über meine Vorstellungskraft, war weit unfassbarer als die schiere Tatsache, dass sie alle am Leben waren, hier zusammen lebten, in einem durchaus hübschen unterirdischen Bunker, der wie eine großzügige WG eingerichtet war, alle Wände in diesem Rosaton gestrichen, den man Baker-Miller-Pink nannte, direkt unter dem Turtleback Mountain. Am Leben. Älter zwar, einige von ihnen weit älter, als ich sie in Erinnerung hatte, aber unverkennbar am Leben. Besonders Janis, die sich immer wieder schimpfend und mosernd darüber echauffierte, dass Elvis sich nachts nach draußen schlich, um die gefährlich frische Luft zu schnappen, und der nun prompt einen Fremden mit hereingeschleppt hatte – dabei hatte sie ihn doch immer wieder gewarnt, dass genau das eines Tages passieren würde.

 

 

Sie brachten sie mit einem Glas guten Whiskeys zum Schweigen und Jim Morrison, den ich niemals erkannt hätte, wenn sie mir nicht gesagt hätten dass er es war, erinnerte sie daran, dass er schließlich auch regelmäßig hinaus in die Welt ging, um ihre Vorräte aufzustocken. Rausgehen war also nicht nur eine Gefahr oder eine dumme Idee, sondern auch verdammt notwendig. Und dann tranken wir alle ein paar Whiskeys, stießen mit den Gläsern an und tauschten Geschichten aus. Eigentlich tauschten nur sie Geschichten aus, ich saugte bloß alles auf wie ein Schwamm, während mir immer wieder der Mund offen stehen blieb. Nicht zu fassen, großartig, abgefahren und sowas von aufregend! Das Komische war, dass es nicht die Erzählungen ihres musikalischen Ruhms waren, in denen die größten Überraschungen steckten. Nein, denn nach ihrem jeweiligen angeblichen Tod und dem darauf folgenden Umzug in diesen unterirdischen rosafarbenen Palast hatten sie ein neues unglaubliches Leben begonnen und bis heute gelebt. Sie arbeiteten für eine hochgeheime Regierungsorganisation, so geheim, dass nicht einmal die Regierung von ihrer Existenz wusste. Das klang vertraut. Das klang einen Moment lang gar nicht gut, denn wenn selbst mein alter Freund Ed sagte, er müsse mich umbringen, wenn ich etwas über seinen Job oder seinen Aufenthaltsort wüsste, was würden diese Giganten dann wohl mit mir machen? Aber sie prosteten mir weiterhin vor jedem neuen Schluck freundlich zu, sie blühten geradezu auf, weil sie endlich die Gelegenheit hatten, jemandem ihre Geschichten von heldenhaften Hackerangriffen und der Kriegführung im Cyberspace zu erzählen, der sie nicht schon tausendmal gehört hatte … ich konnte schlicht nicht glauben, dass sie mich hinterher abmurksen würden.

 

 

Sie waren also Anonymus geworden, könnte man sagen. Sie spielten auf den Tastaturen ihrer Computer wie auf dem Klavier. Ich fragte mich, ob ihre Virtuosität als Musiker sich so einfach aufs Coden und Phishen und Hacken übertragen ließ. Alle gaben zu, dass sie das Singen vermissten. Natürlich sangen sie immer noch, meist für sich allein, aber das war nicht das Gleiche. Man konnte ja nie wissen, ob man immer noch Menschen rühren konnte mit seiner Stimme. Ob man es noch drauf hatte. Und sie hatten bereits vor langer Zeit aufgehört, sich gegenseitig etwas vorzusingen. Das machte sie nur miesmutig und kratzbürstig. Ich fand das sehr schade.

 

 

Dann fiel mir irgendwann meine krude Mission wieder ein. „David ist also nicht bei euch. Aber ist er denn wirklich gestorben? Was glaubt ihr? Wisst ihr es?“ Sie wechselten verstohlene Blicke, und dann schüttelte Elvis schließlich den Kopf, und Jim der Lizard King tat es ihm nach, und die anderen zuckten entschuldigend die Achseln.

 

 

„Wir wissen es nicht“, gab Amy zu. „Wir haben uns die größte Mühe gegeben, alle Quellen zu durchleuchten, allen Hinweisen nachzugehen. Aber rein gar nichts deutet darauf hin, dass er seinen Tod nur vorgetäuscht hat und  jetzt auch an einem Ort wie diesem haust. Es scheint also, dass er tatsächlich tot ist. Aber wer kann das schon wissen, vielleicht gibt es noch weitere Netzwerke, Behörden, Gruppierungen …“ Ihre Stimme verlor sich und sie sah mich mitleidig mit ihren dunklen Augen an, deren Lider immer noch den auffälligen Schwalbenschwanz-Lidstrich trugen, der ihr Markenzeichen gewesen war. Ihre Haare dagegen erschienen seltsam platt ohne den hochtoupierten Bienenkorb. Sie wirkte müde, beinahe verschlissen, aber auf eine sehr verführerische Weise. Elvis seufzte und ich nickte langsam. In meinem Hirn formte sich eine weitere Frage, aber ich zögerte, sie zu stellen. Ich wollte nicht, dass diese Idole, diese Könige und Königinnen mich auslachten. Mein Plapperhirn allerdings drängte mich dazu, den Mund aufzumachen. Scheißegal. Das alles ist schon schräg genug, niemand wird dich für irre alten, wenn du fragst … Also fragte ich.

 

 

„Gibt es einen Weg … ich meine, kann man irgendwie ins Totenreich gelangen? Naja, nur um ganz sicher zu gehen, dass er nicht da ist?“ Sie sahen mich alle bloß an, und Jim ließ den Rest Whiskey in seinem schweren Glas kreisen, so als läse er darin die Antwort auf meine Frage. Niemand lachte. „Gibt es vielleicht sogar eine Möglichkeit“, fuhr ich fort, ermutigt von der Tatsache, dass mich offenbar keiner von ihnen für einen gefährlichen Wahnsinnigen hielt, „hineinzugehen und jemanden zurückzuholen? Wisst ihr, deswegen bin ich eigentlich losgezogen: Ich will Bowie zurückholen.“

 

 

Amy lächelte mich mit einem Anflug von Wehmut an, Janis setzte ein Gesicht auf, das alles und nichts bedeuten konnte. Kurt blieb ebenso unverbindlich und in sich zurückgezogen wie er es den ganzen Abend über gewesen war, während Jimi sich nachdenklich am Kinn kratzte. Elvis und Jim wechselten einen Blick. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass die beiden die Antworten hatten, die ich suchte. Mein Herzschlag beschleunigte sich.

 

 

Jim leerte sein Whiskeyglas, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und sagte dann gleichmütig: „Dein Freund Ed hat dir vielleicht den Eindruck vermittelt, dass ein Computer dir absolut alles verraten kann. Aber wie Amy schon sagte: Wir haben das überprüft. Außerdem beschäftigen wir uns schon eine ganze Weile mit dem Tod … Einige von uns fragen sich langsam, ob der nicht die spannendere Alternative wäre …“

 

 

Janis warf ihm einen strafenden Blick zu. Elvis sah plötzlich sehr müde aus. Du große Scheiße, ja. Jim straffte seine Schultern und schenkte mir sein reptilienhaftes Lächeln. Immer noch der Lizard King. „Es gibt keinen Eingang zur Unterwelt, nicht für die Lebenden. Du musst sterben, um hineinzugelangen. Punkt.“ Er zuckte die Achseln, aber dieses Lächeln sagte mir, dass das nicht sein letztes Wort gewesen war. Es sagte mir, dass ich allein mit ihm sprechen musste. „Äh, gibt es hier eigentlich auch eine Toilette? Ich muss dringend pinkeln.“

 

 

„Den Flur runter, zweite Tür rechts“, erklärte Elvis. Ich nickte und erhob mich aus dem bequemen Sessel. „Warte, ich zeig’s dir“, meldete Jim sich zu Wort, plötzlich überaus hilfsbereit. „Ich muss auch mal für kleine Krokodile.“ Janis blickte ihn finster an, aber es war nicht ganz klar, ob sie bloß seinen Euphemismus fürs Pinkeln bescheuert fand oder die Tatsache, dass wir beide zusammen aufs Klo gingen.

 

 

Und ganz wie ich erwartet hatte, wollte Jim mir etwas mitteilen. Wir betraten den türkis gekachelten Raum. Es gab kein Urinal, also wählten wir zwei Kabinen nebeneinander und setzten uns hin. Ich weiß das ganz sicher, denn am Klang der Pisse in der Schüssel kann man hören, ob der Nachbar sitzt oder steht … und dann verzog ich das Gesicht, weil mein Hirn sich selbst über solche Dinge ausführlich Gedanken machte, aber bevor ich mich darüber groß ärgern konnte, hörte ich seine Stimme von nebenan. Er flüsterte laut: „Hey, Barry!“ Das war niedlich, verschwörerisch. Ich flüsterte ebenso übertrieben heimlich zurück: „Ja?“

 

 

„Okay, hör zu. Du weißt, dass wir am Ende sicherstellen müssen, dass du nichts ausposaunst, nicht wahr?“

 

 

Ich schluckte. War das lediglich eine Warnung, wollte er mir sagen, ich solle machen, dass ich hier rauskam, solange ich noch konnte? Er fuhr fort, immer in diesem theatralischen Flüsterton: „Also werden wir dir diesen Trank verabreichen, der dich vergessen lässt, was du hier gesehen und gehört hast. Es ist eine Pille, die wir dir in den letzten Whiskey tun. Die löst sich auf und du merkst gar nichts. Ich schlage also vor, dass du das Zeug schluckst wie ein braver Junge, und dann kommst du hierher zurück, steckst dir den Finger in den Hals und kotzt es wieder aus. Wahrscheinlich wird es deine Erinnerungen trotzdem ein wenig durcheinanderbringen, denn das Zeug wirkt rasend schnell. Aber mit etwas Glück wirst du dich noch an das erinnern, was ich dir jetzt sagen werde. Also hör genau zu!“

 

 

 

Ich schluckte wieder und wurde zunehmend aufgeregter.

 

 

„Es gibt da eine Frau in dieser Stadt. Die meisten Menschen sehen in ihr nur die Hippiebraut auf Drogen, aber wenn es jemanden gibt, der dir zeigen kann, wie du auf die andere Seite gelangst, dann sie. Break on through to the other side, wenn du weißt was ich meine.“ Er hielt inne, also krächzte ich mühsam: „Ja, ich verstehe.“

 

 

„Morgen früh gehst du die Hauptstraße entlang, einmal quer durch die Stadt, dann triffst du südlich der heißen Quellen auf den Rio Grande. Die Quellen, um die sie ein Luxushotel herum gebaut haben. War mal ein echt magischer Ort, aber jetzt geht es dort nur noch ums Geld. Du gehst also am Hotel vorbei, an den Quellen vorbei und setzt dich ans Flussufer, verstanden? Setz dich einfach hin und warte auf sie. Sie wird auftauchen, wenn sie es für richtig hält, also vergiss nicht, genügend Wasser für den Tag mitzunehmen, und vielleicht eine Flasche Schnaps für sie. Als Opfergabe, versteht sich. Du wartest, sie kommt, und dann kannst du ihr sagen, was du willst. Weswegen du gekommen bist. Das ist der einzige Rat, den ich dir geben kann. Das ist der einzige Weg, der vielleicht funktioniert. In Ordnung, mein Sohn?“

 

 

„In Ordnung“, krächzte ich und war seltsam gerührt, dass der Lizard King mich mein Sohn nannte, so als wäre er ein alter Südstaaten-Gentleman, oder General. Ich schüttelte den Schauder ab, der mir unentwegt über den Rücken laufen wollte. „Gehen wir zurück zu den anderen“, drängte Jim und das taten wir.

 

 

Ich folgte seinem Rat. Als wir uns wieder zu den anderen setzten, hatte bereits jemand mein Glas nachgefüllt. Da war jetzt also das Vergessensserum drin. Janis musterte uns mit einem Blick, der sagte: Ich weiß doch Bescheid, du hast die Klappe nicht halten können. Aber sie schien jetzt entspannter als vorher, was wahrscheinlich daran lag, dass sie sicher war, dass ich alles über sie und diesen Ort vergessen würde. Das hätte sie wohl gerne. Elvis warf einen Blick auf seine fette goldene Armbanduhr und verkündete, es sei Zeit fürs Bett. Die Sonne würde bald aufgehen. Wir hatten die Nacht damit zugebracht, zu reden und zu trinken, über das Leben und den Tod zu sinnieren. Ich bedankte mich bei ihnen allen für ihre Gastfreundschaft und auch für ihre schiere Existenz, damals wie heute. Sie lächelten gnädig und ein wenig erschöpft. Bis auf Jim, dessen Echsenlächeln mir versprach, dass diese Geschichte noch nicht zu Ende erzählt war. Ich hob mein Glas, prostete ihnen mit einem Nicken zu und leerte den Trunk in einem Zug. „Ich gehe zur Sicherheit noch einmal aufs Klo und dann bin ich auch schon weg“, erklärte ich und hastete erneut in den Raum mit den türkisfarbenen Fliesen, eine kühle Erleichterung in einem Meer aus rosa Wänden. Baker-Miller macht dich irgendwann fertig, lasst euch von seiner scheinbar süßen Harmlosigkeit nicht verarschen. Der Farbton wird nicht umsonst gern in Hochsicherheitsgefängnissen eingesetzt.

 

 

Es gelang mir, mich zu übergeben, und ich hoffte, dass mir meine Erinnerungen erhalten bleiben würden. Dann spritzte ich mir kaltes Wasser ins Gesicht und verließ den Waschraum wieder. Elvis brachte mich zur Tür und die aufgehende Sonne wartete schon auf mich, als ich hinaus ins Freie trat. Ein neuer Morgen, ein paar Meilen Fußweg vor mir und eine vollkommen veränderte Welt. Ich stapfte wieder los.

 

 

*

 

 

Solange ich einen Fuß vor den anderen setzte, war alles in Ordnung, aber kaum dass ich die Flussbiegung südlich des Hotels mit dem Namen Hot Springs Resort & Spa erreicht hatte, war mir nach Heulen, Schluchzen und Nervenzusammenbruch. Ich setzte mich auf einen Felsen, verbarg das Gesicht in meinen Händen und die Tränen fingen zu fließen an. Was dachte ich mir nur dabei? Ich hatte einige der größten toten Musiker aller Zeiten gesehen (juhu, die Erinnerung war noch intakt!), und sie lebten, es ging ihnen den Umständen entsprechend blendend; sie wurden zwar schrecklich alt, aber sie waren nicht die toten Legenden, für die jeder sie hielt. Und jetzt wartete ich hier ernsthaft auf eine Frau, die mich eventuell mit in die Unterwelt nehmen würde? Ich war ganz sicher durchgeknallt. Ich sollte erwachsen werden, akzeptieren, dass mein Idol gestorben war, und mich wieder auf mein eigenes Leben konzentrieren. Aber dann fiel mir der Auftrag ein, vor dem ich davongelaufen war, und ich weinte noch heftiger. Mein eigenes Leben? Ich war ein Verlierer; alles was ich kriegen konnte waren Scheißjobs irgendwo im schlecht bezahlten Niemandsland zwischen Marketing und Journalismus. Hatte ich nicht irgendwann einmal selbst ein Künstler sein wollen? Ich wusste längst nicht mehr, ob ich wegen meiner eigenen erbärmlichen Existenz so traurig war, wegen meinem toten Duke, oder wegen diesen gealterten Sängern und Sängerinnen in ihrer unterirdischen rosafarbenen Verwahranstalt. Mein Güte, Elvis hatte ganz schöne Hängebacken bekommen.

 

 

„Du suchst nach mir.“ Es war eine Feststellung, keine Frage. Ich hob den Kopf und sah die Hippiefrau, eine Hand in die Hüfte gestemmt, die andere schirmte die Augen gegen die grelle Sonne ab. Sie musste es sein, und das nicht bloß wegen der unmissverständlichen Begrüßung. Sie sah genau so aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte: ein weiter, flatternder Rock, der bis über ihre Knöchel hinab reichte und ein langer, hauchdünner Schal. Wilde Locken und durchdringende, tiefgründige Augen. Unzählige schmale, silberne Armreifen am rechten Arm. Allerdings war sie jünger als ich erwartet hatte, jung für jemanden, der mit den Toten verkehrt. Oder was auch immer es war, das sie tat.

 

 

Ich wischte mir über die verheulten Augen und nickte. „Ja … jemand sagte mir, dass du mich ins … äh … Totenreich schicken könntest.“ Ich musste sehr verwirrt klingen und ich fühlte mich wie ein Blues Brother, der allen ständig erzählt, dass er die Band wieder zusammenholt. Sie sah mich lediglich lange an, so als erwarte sie, dass da noch mehr Blödsinn aus meinen Mund käme. Und ich enttäuschte sie nicht. „Ich möchte nachsehen, ob Bowie wirklich dort ist, und falls das möglich ist, möchte ich ihn zurückholen. Du hast nicht ganz zufällig eine Idee, wie ich das bewerkstelligen kann, oder?“ Ihr Lächeln war eine Erleichterung. Vielleicht hörte ich mich ja doch nicht an wie ein wahnsinniger Vollidiot. Aber genau so fühlte ich mich. Aladdin Sane. A lad insane. Ein durchgeknallter Bursche.

 

 

„Vielleicht habe ich die. Die Frage ist jedoch, ob du dafür bereit bist. Das wird ganz sicher nicht das, was du erwartest.“

 

 

Was erwartete ich? Ich hatte nicht den blassesten Schimmer. Aber ich war bereit, oh ja, dessen war ich mir zumindest vollkommen sicher. Gib mir alles, nur nicht die Langeweile, der ich gerade noch rechtzeitig entkommen war. „Ich bin bereit. Ich komme damit klar. Ich meine, Scheiße, ich habe letzte Nacht Elvis gesehen!“

 

 

Sie lächelte. „Na gut. Aber sei nachher nicht wütend auf mich.“ Und damit hielt sie mir ihre geöffnete Hand hin. Darin lag eine winzige rosafarbene Pille, die mich verdächtig an die Baker-Miller-Wände im Unterschlupf der Idole erinnerte. Ich nahm sie mit zitternden Fingern aus ihrer Handfläche, steckte sie mir fast gierig in den Mund und fühlte Panik drohend in mir aufsteigen. Dann trank ich ein paar Schlucke aus meiner Wasserflasche und spürte der Pille hinterher, bevor ich in den Kaninchenbau hinunterstürzte.

 

 

Hatte ich also Halluzinationen? Ich drehte mich um und blickte dem Tod ins Auge. Turn and face the strange. Ich sah ihn, Ashes to Ashes, von Angesicht zu Angesicht. Ich schwebte durch den Weltraum, far above the world. Er sah mich mit diesem strengen, herben Blick an, der mich an einen Bibelvers erinnerte … gewogen und für zu leicht befunden. Aber dann lächelte er mich an, schenkte mir sein unverkennbares Grinsen voller unperfekter Zähne und ungezügelter Lebensfreude, immer noch. Die Unruhe fiel von mir ab. Er berührte mich. Legte mir seine Hand auf die Brust, direkt über dem Herzen. Unsere Blicke trafen sich, hielten einander fest, während die Farben um uns herum und zwischen uns und in uns wogten und wallten. Sie schlängelten und fächerten sich auf, flossen ineinander. Psychedelisch, wie Disco in Zeitlupe, fieberhaft. Nur er und ich, Ashes to Ashes, funk to funky, face to face. Eine eindeutig erotische Spannung in der Luft, und ich fühlte, wie mein Körper auf seinen reagierte, und es störte oder verstörte mich kein bisschen. Und dann verblassten die Farben, wuschen sich aus, bis nur noch das helle Beige von Sand und Dünen und Trenchcoats übrig war, das Falbe seiner Haare. Die einzigen Kontrastpunkte in dieser Leere, dieser plötzlichen Wüste, waren seine Augen … bis er sie schloss, und ich meine als Reaktion. Ich wusste, dass es vorbei war. Ich brauchte meine Augen gar nicht wieder zu öffnen, ich wusste auch so, dass er fort war, und ich wieder am Flussufer, ausgestreckt auf dem sonnenüberfluteten Felsen. Auch die Frau war nirgends mehr zu sehen. Die Begegnung war viel zu kurz gewesen, nur ein einziger Wimpernschlag im Angesicht der Ewigkeit. Aber das Prickeln … Das Prickeln hatte sich jetzt in meiner Brust eingenistet und würde nicht wieder weggehen.

 

 

*

 

 

Ihr nehmt mir das nicht ab, nicht wahr? Ihr sollt mir auch gar nicht glauben. Sucht nicht nach der Verwahranstalt unter dem Turtleback Mountain. Sucht nicht nach der Hippiefrau mit dem wissenden Lächeln. Nehmt es einfach als eine nette kleine Geschichte, ein wahnwitziges Märchen eines dummen Tagträumers, okay? Denn das bin ich seither, ein Geschichtenerzähler. Ich bin jetzt ein Schriftsteller, bin an jenem Morgen endlich einer geworden. Ich schätze, das war das Geschenk, das mein Duke mir gemacht hat. Keine Langeweile mehr, und mein Plapperhirn ist auch zufrieden. Es darf jetzt plappern, soviel es möchte, und ihr dürft mir glauben, wenn ich euch sage, dass es das tut. Ununterbrochen.

 

 

Ich befürchtete immer noch, dass ich meine Erinnerung verlieren könnte, also habe ich all das auf dem Rückweg aufgeschrieben. Nicht zurück in den nervtötenden Zug, sondern zurück nach Hause, in meine Bude, wo ich als erstes seine Musik aufgelegt habe. Ich war in Aufbruchsstimmung, wollte Tempo und Schwung, also habe ich Let’s Dance gewählt. Und dann beschlossen, dass ich die Geschichte nicht in meinem Tagebuch verstecken würde. Nein, ich wollte sie veröffentlichen, sie hinaus in die Welt schicken, es jedem erzählen. Das war überhaupt kein Risiko, es lag nicht die geringste Gefahr darin, denn alle würden es für Fiktion halten. In einer fiktiven Geschichte darf man alles erzählen. Das ist das Schöne daran.

 

 

Nun sind wir also an dieser Stelle angelangt und ich muss nur noch auf Enter drücken, während seine Stimme mir befiehlt: Just you shut your mouth … Nein, David, das werde ich nicht. Ich lege jetzt den glitzernden blauen Lidschatten auf, lächle meinem Gegenüber im Spiegel zu und dann werde ich tanzen. Aber zuerst drücke ich die Taste. Enter. Oder Return, ganz wie man’s nimmt.

 

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Auch Claudia (Freitag, 25 August 2017 23:58)

    Dein Buch ist fertig! Dankeschön! Evtl. lag ich mit det

  • #2

    Claudia (Samstag, 26 August 2017 09:36)

    Hallo Claudia! Jetzt wüsste ich aber gern, wie dein Kommentar weitergeht, denn er endet doch ziemlich plötzlich ... Oder hat dich gerade auch irgendeine Musik durch die Zeit reisen lassen, so wie meine Luise, mitten im Satz???

    Würde mich freuen, mehr zu lesen!
    Claudia